Ann Wright: Vor 22 Jahren, am 19. März 2003, trat ich aus dem US-Außenministerium aus. Ich war stellvertretende Missionschefin der US-Botschaft in
Ulaanbaatar, Mongolei, und die dritte US-Regierungsangestellte, die aus Protest gegen den Irakkrieg der USA zurücktrat. Ich kündigte an dem Tag, an dem die Bush-Regierung den zehnjährigen
Krieg der USA gegen den Irak begann, am 19. März 2003.
Von Ann Wright, ehemalige US-Diplomatin und Oberst der U.S. Army im Ruhestand
22 Jahre später bereue ich meine Entscheidung kein bisschen. Präsident Bush hat, wie die Präsidenten vor und nach ihm, gelogen. Seine Lüge bezog
sich auf den Grund für den Angriff der USA und die Tötung von Hunderttausenden von Irakern.
Im Jahr 2003 behaupteten Bush, Cheney, Rumsfeld und Powell, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen, obwohl internationale Waffeninspektoren in ihren
Erklärungen eindeutig darauf hingewiesen hatten, dass es nach ihren umfassenden Untersuchungen keine Massenvernichtungswaffen gab.
Stattdessen folgte Bush den Ratgebern, die den Leitfaden „Project for the New American Century“ verfasst hatten, in dem der Sturz von sieben Ländern im Nahen Osten gefordert wurde, wobei der Irak das
erste Land war, das gestürzt wurde.
Die Namen der Autoren dieses Krieges gegen die Welt, des „Krieges gegen den Terror“, sind bis heute in Verruf: Donald Rumsfeld, Richard Pearle, Douglas
Feith und natürlich Vizepräsident Dick Cheney.
Bush hatte bereits über den Grund für die Entsendung des US-Militärs nach Afghanistan gelogen. Anstatt eine internationale Polizeiaktion zur Ergreifung
der Anführer von al-Qaida durchzuführen, die die Ereignisse vom 11. September geplant und ausgeführt hatten, wollte die Bush-Regierung eine Plattform in der Nähe des Iran schaffen,
von der aus sie einen Krieg gegen den Iran führen konnte. Doch die kleinen, unterfinanzierten und schlecht ausgebildeten Taliban hielten das US-Militär und die hochqualifizierte, aber
schlecht motivierte afghanische Armee 20 Jahre lang in Schach, während derer die USA in Afghanistan stationiert waren.
Ich war Teil des Teams, das im Dezember 2001 die US-Botschaft in Kabul, Afghanistan, wiedereröffnete. Unsere kleine Gruppe von DiplomatInnen erkannte
sehr schnell, dass die Verfolgung von Al Qaida nicht das Hauptziel der US-Intervention in Afghanistan war. Der Schwerpunkt der US-Politik und -Finanzierung lag 2002 woanders … und
zwar auf dem Sturz von Saddam Hussein im Irak.
Wenn ich noch einen Rücktritt hätte – nein, zwei!
Ein Rücktritt wegen Bidens Mitschuld am Völkermord in Gaza
In den letzten zweiundzwanzig Jahren gab es zahlreiche Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dass ich zurückgetreten wäre, wenn ich noch in der
US-Regierung wäre. Die Mitschuld von Präsident Joe Biden am israelischen Völkermord in Gaza, der im Oktober 2023 begann, hätte einen
Rücktritt verdient … und 14 Regierungsangestellte der USA sind wegen der Waffen und der Ermutigung, die die Biden-Regierung der israelischen Regierung beim Völkermord in Gaza gab,
zurückgetreten. Dabei wurden über 60.000 palästinensische Menschen getötet und Zehntausende befanden sich noch unter den Trümmern, als Biden sein Amt niederlegte, ohne dass versucht
wurde, die israelische Regierung dazu zu bringen, die Morde zu stoppen. Und vergessen wir nicht die Komplizenschaft von Obama und Biden bei
den von den USA inszenierten Ereignissen in der Ukraine, die, einschließlich des rechtsgerichteten, nationalistischen Sturzes der Regierung im Jahr 2014 und der gebrochenen
Versprechen an Russland, dass die Ukraine nicht Teil der NATO werden würde, zu dem schrecklichen Krieg zwischen der Ukraine und Russland führten und von der Biden-Regierung mit Waffen
angeheizt wurden, ohne dass auch nur der Versuch unternommen wurde, den gefährlichen Konflikt zu beenden.
Ein weiterer Rücktritt wegen Trumps Politik im In- und Ausland: Project 2025
Jetzt müsste ich erneut zurücktreten, wenn ich noch in der US-Regierung wäre.
Vier Präsidentschaften nach meinem Rücktritt – Obama, Trump, Biden, Trump – ein weiterer Fahrplan für innerstaatliche und internationale Rechtsbrüche
und Chaos, der einen Präsidenten leitet: Project
2025
Während Trump, wie Bush vor ihm, jegliche Kenntnis von Plänen seiner Berater abstritt, spielt er damit denen in die Hände, deren Agenda ihn verfolgen
wird – eine Agenda, die viel weitreichender ist als die, die Bush zuließ.
Die Weichen für die Zerstörung der US-Regierung sind gestellt, indem massenhaft Beamte entlassen werden. Vernünftige Regierungsreformen und
-verkleinerungen sind zu einer Regierungszerstörung geworden, angeführt von dem nicht gewählten Elon Musk, dem reichsten Menschen der Welt, der einige der größten Regierungsaufträge
hat (von denen viele untersucht wurden) und ein Team von sehr jungen Technologie-Einzelgängernanführt, die keine Ahnung von der Regierung haben und die
Computerinformationen der gesamten US-Regierung übernehmen und Zehntausende von Mitarbeitern per Tastendruck entlassen.
Trump fühlt sich durch die fehlende Empörung des Kongresses ermutigt und droht nun mit einer Invasion in Panama und Grönland und schikaniert Kanada,
weil es kein Bundesstaat der Vereinigten Staaten werden will, worauf die kanadische Öffentlichkeit und die kanadischen Beamten zu Recht mit einer Eishockey-Warnung an Trump reagiert
haben: „Ellbogen hoch!“ Der „Friedenskandidat“ Trump hat den ukrainischen Präsidenten Zelensky im Weißen Haus bei einem Treffen über den
Verkauf ukrainischer Mineralien an die USA zur Bezahlung von Waffen für den Krieg gegen Russland gedemütigt und schikaniert. Während der
„Friedenskandidat“ Trumps Gesandter, der milliardenschwere Immobilieninvestor Steve Witkoff, einen dringend benötigten Waffenstillstand im israelischen Völkermord in Gaza aushandelt,
endet der Waffenstillstand mit einer zweiwöchigen israelischen Blockade von Gaza mit Lebensmitteln, Wasser, Unterkünften und Strom sowie der Fortsetzung der massiven Bombardierung von
Gaza und der Lieferung von weiteren 12 Milliarden US-Dollar an tödlichen Waffen durch die USA. Als die Waffenruhe in Kraft tritt, verkündet Trump, getreu seinem Stil, der Welt, dass
die palästinensische Bevölkerung Gaza verlassen müsse, damit es wieder zu etwas „Wundervollem“ aufgebaut werden könne … aber ohne sie.
Ganz zu schweigen von der Unterwürfigkeit von Regierungsbehörden, Universitäten und Unternehmen gegenüber Trump bei der Beseitigung von DEI, Diversity,
Equity and Inclusion (Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion) als seine Handlanger, um Frauen, Minderheiten, Behinderte und Gender in seiner weißen, männlichen, nationalistischen
Agenda auszulöschen, die scheinbar von dem (auf jeder Ebene) völlig unqualifizierten „Angriffs“-Minister Pete Hegseth angeführt wird. Es
gibt so viele Probleme … und Möglichkeiten für Resignation und Widerstand.
Von Resignation zu Widerstand
Vor zwei Jahrzehnten habe ich mich von der kriminellen Politik der USA abgewandt und nun bin ich im 22. Jahr des Widerstands gegen die kriminelle
Politik aufeinanderfolgender Regierungen.
Falls Sie es noch nicht tun, schließen Sie sich den Millionen an, die auf der Straße, im Kongress, bei Bürgerversammlungen, per E-Mail und
Telefonanrufen den Angriff auf unser Land und die Welt beenden wollen. Ich habe Links zu vielen der Organisationen eingefügt, mit denen ich zusammenarbeite. Bitte schließen Sie sich
uns an!!!
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Angela Becker vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam
erstellt.
Vor fünf Jahren warnte Gorbatschow: „Krieg liegt in der Luft!“ – Und der Mainstream hielt sich die Ohren zu.
Vor genau fünf Jahren warnte Michail Gorbatschow in einem leidenschaftlichen Appell die Atommächte davor, eine Politik weiter fortzusetzen, deren letzte
Konsequenz Krieg sein könne. Den deutschen Medien war das so gut wie keine Meldung wert! – Die damalige Veröffentlichung von Leo
Ensel auf Free21 ist inzwischen fünf Jahre her, dennoch sind die Gedanken Gorbatschows heute noch genauso aktuell wie damals. Deshalb
greifen wir sie hier noch einmal auf.
Verkehrte Welt: Der erste und letzte Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, der zu Beginn des Monats seinen 89. Geburtstag feierte, veröffentlichte
am 12. März in der „kremlkritischen“ Novaja Gaseta einen leidenschaftlichen Antikriegs-Appell, und das einzige Medium, das in Deutschland, dem
Land mit den weltweit meisten Gorbi-Fans, darüber berichtete, waren – die „kremlnahen“ SputnikNews!
Aber man ist ja, was die Gorbatschow-Rezeption in Deutschland angeht, mittlerweile einiges gewohnt. Sein letztes Buch „Was jetzt auf dem Spiel steht – Mein Aufruf für Frieden und
Freiheit“ wurde in den Leitmedien fast durchgängig ignoriert und das Comeback, das ihm hierzulande anlässlich des 30. Jahrestags des Mauerfalles gnädig gewährt wurde, erwies sich
als ein sehr kurzes Intermezzo.
„Um der Macht willen, sind die Falken zu allem bereit!“
Der Mann, der den (ersten) Kalten Krieg beendete, ist für seine klaren Worte bekannt. „Es liegt Krieg in der Luft! Um der
Macht willen, sind die Falken zu allem bereit“, schreibt er – und das sollte man bitter ernst nehmen. Zweimal habe die Welt bereits innerhalb der ersten beiden Monate dieses Jahres
vor einer militärischen Konfrontation mit Beteiligung der Großmächte gestanden: im Iran, im Irak und in Syrien. „Was ist das?“, fragt
Gorbatschow. „Das ist die alte Politik am Rande eines Krieges, eine gefährliche, abenteuerliche Politik!“ Immer zahlreicher würden die Stimmen,
die Krieg und Gewalt wieder als Mittel der Politik anpriesen. Selbst Atomwaffen würden wieder gelobt. „Clausewitz wäre sehr überrascht, zu erfahren,
welche Menschen sich im 21. Jahrhundert hinter seinen Worten verstecken!“
Gorbatschow prangert die USA an, sich aus sämtlichen Rüstungskontrollverträgen zurückzuziehen. Und er richtet den Blick auf die zahlreichen „Dangerous Brinkmanships“,
brandgefährliche Beinahkollisionen zwischen den Streitkräften der NATO und Russlands – seit Beginn der Krimkrise mindestens 66 „Critical Incidents“, darunter drei, die unter die Kategorie
„High Risk“ fielen – und nicht nur im Schwarzen Meer oder über der Baltischen See: „Militärflugzeuge fliegen bedrohlich dicht an ausländische Grenzen,
Schiffe nähern sich gefährlich, Zivilflugzeuge wurden bereits mehrmals mit Raketen abgeschossen!“
„Wenn die Folge der Politik Krieg ist, dann nieder mit dieser Politik!“
Und dann zieht der Vater des INF-Vertrages, der zudem mit Ronald Reagan 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit verschrottete, unmissverständlich die
Konsequenz:
„Wenn die Folge der Politik Krieg ist, dann nieder mit dieser Politik! Kommt endlich zur Vernunft. Hört auf! Jede Aktion
ist zu stoppen, die uns einer Katastrophe näher bringt – das ist das Gebot für verantwortungsvolle Politiker.“
Gorbatschow bedauert nicht zuletzt, dass die Führer der USA und Großbritanniens das Angebot Präsident Putins abgelehnt hätten, zu den Feierlichkeiten des
75. Jahrestags des Sieges im II. Weltkrieg nach Moskau zu kommen. Damit hätten sie auch die Chance ausgeschlagen, zusammen mit den anderen ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats die
gegenwärtige alarmierende Situation zu erörtern und die Erklärung der Unzulässigkeit eines Atomkriegs zu bekräftigen.
Die Reaktion der deutschen Medien auf die Warnungen ‚unseres‘ Gorbi: Nullkommajoseph!
Die Ignoranz der Medien
Macht man sich die Echolosigkeit, die Gorbatschows Appell in Deutschland entgegenschlug, in ihrer ganzen Tragweite bewusst, dann verschlägt es einem fast
die Sprache: Es ist, als hätte der fast neunzigjährige, gesundheitlich angeschlagene Gorbatschow auf seinen letzten Metern nochmals in einem
ultimativen Kraftakt die gesamte ihm zur Verfügung stehende Energie gebündelt, um sie auf das wichtigste Ziel zu richten, das es im Moment geben kann: die Welt – Politiker und
Bevölkerungen – aufzurütteln, alles, aber auch alles zu unternehmen, es nicht zum Äußersten, einem wieder möglich gewordenen alles vernichtenden Atomkrieg zwischen den Supermächten kommen
zu lassen.
Das Schweigen, nein: die vorsätzliche Ignoranz nahezu sämtlicher deutschen Medien ist nicht etwa nur peinlich, nicht nur beschämend, gar erbärmlich – sie
ist unverzeihlich!
BUNDESTAGSWAHL 2025: UKRAINEKRIEG AUS DER ÖFFENTLICHEN DEBATTE VERSCHWUNDEN
Der BSW-Europaabgeordnete Michael von der Schulenburg kritisiert das Schweigen der „etablierten“ Parteien zum Ukrainekrieg. Ein Gastbeitrag.
08.02.2025 06:00 Uhr
Der Krieg in der Ukraine und seine Folgen sind Schicksalsfragen für Deutschland, die die politische, sicherheitspolitische, wirtschaftliche und soziale
Zukunft dieses Landes für lange Zeit negativ bestimmen werden. Es ist der größte Krieg auf europäischen Boden seit dem Zweiten Weltkrieg, der uns in den letzten Monaten
einer nuklearen Katastrophe gefährlich nahegebracht hatte.
Dieser Krieg ist nun verloren, die Ukraine ist sein Blutopfer, und die EU-Länder, allen voran Deutschland, sind die Verlierer. Dass es so gekommen ist, daran
tragen auch die Parteien SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP sowie die etablierten deutschen Medien eine schwere Schuld.
Gerade deshalb scheint der Ukrainekrieg im Bundestagswahlkampf fast völlig aus der öffentlichen Debatte verschwunden zu sein. Auch werden Deutschlands
Aufrüstungsanstrengungen und die Versuche, das Land „kriegstüchtig“ zu machen, kaum noch angesprochen. Von der geplanten Aufstellung von US-Raketensystemen kein Wort. Auf den
Wahlplakaten der etablierten Parteien steht nichts zum Krieg und zu Kriegsvorbereitungen. In den etablierten Medien gibt es kaum Berichte, die umfassend über die desaströse militärische und
politische Lage in der Ukraine berichten. Auch die wahren Konsequenzen der Wahl von Präsident Trump für die Ukraine werden weitgehend verschwiegen.
Kompromisslos in den Niedergang
Und das gerade jetzt, da der Krieg sich in seiner entscheidenden – und wohl auch blutigsten – Phase befindet. Militärisch dürfte die ukrainische Armee kurz vor
einem Zusammenbruch stehen, und zu befürchten ist, dass dieser einen politischen Zusammenbruch des Landes nach sich zieht.
Seit drei Jahren beteiligt sich Deutschland als zweitgrößter Waffenlieferant an diesem Krieg. Es ist die kompromisslose Kriegspolitik der deutschen Parteien, die
bis heute an einen Sieg über Russland zu glauben vorgeben und die – sieht man von einem ergebnislosen Telefongespräch des Bundeskanzlers ab – eine Verhandlungslösung immer noch ablehnen.
Mit der Verdrängung des Ukrainekrieges aus der öffentlichen Debatte entziehen sich die etablierten Parteien ihrer Verantwortung. Nun soll all das bei den
Bundestagswahlen keine Rolle spielen, bei all dem Blut, dass in diesem Krieg vergossen wurde? Für diese Gefühlslosigkeit wird Deutschland noch einen hohen Preis zahlen.
Nun werden ein amerikanischer und ein russischer Präsident über eine Friedenslösung verhandeln. Die Verhandlungen haben bereits begonnen, und es soll schon in
wenigen Wochen zu einem persönlichen Treffen zwischen Trump und Putin kommen. Entscheidend wird sein, dass die Amerikaner inzwischen jedes Interesse an der Ukraine verloren haben; ihre Ziele
haben sich auf den Kauf Grönlands und die Wiederbesetzung des Panamakanals verschoben. Eine schnelle Lösung des Ukrainekrieges wird russischen Interessen entgegenkommen, wobei die Interessen der
Ukraine weitgehend unbeachtet bleiben.
Keiner der beiden Präsidenten hegt Sympathien für die EU und insbesondere nicht für Deutschland. Warum auch – die deutsche und die EU-Politik unterliegen weiterhin
einer Realitätsverweigerung. Haben nicht unsere politischen Eliten Putin und Trump mit der für sie so typischen moralischen Überheblichkeit bedacht? So werden weder Deutschland noch die EU bei
diesen Verhandlungen mitreden – und das, obwohl sich der Krieg auf europäischem Boden abspielt und die jetzt zu treffenden Entscheidungen schwere Folgen für Deutschlands und Europas Zukunft haben
werden.
Beispielsweise werden die EU und insbesondere Deutschland für die enormen Kosten des Wiederaufbaus der Ukraine aufkommen müssen. Wenn es Ursula von der Leyen noch
gelingt, die Ukraine im Schnellverfahren in die EU aufzunehmen, könnte sich der Gesamtpreis auf eine Billion Euro addieren.
Ob solch astronomische Summen einer in sich zusammenfallenden und entvölkerten Ukraine überhaupt helfen, bleibt höchst fragwürdig. Uns Deutschen hingegen könnte es
das wirtschaftliche Genick brechen, vor allem, wenn uns der Zugang zu den für die Erholung unserer Wirtschaft so wichtigen Rohstoffen und Märkten im Osten nach einem amerikanisch-russischen
Friedensabschluss verwehrt bliebe.
Flucht in Kriegsfantasien
Mit der Niederlage im Ukrainekrieg vor Augen scheinen SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP die Flucht in weitere Kriegsfantasien anzutreten: Putin wolle demnächst die NATO
angreifen, und falls wir nicht massiv aufrüsteten, stehe er bald am Brandenburger Tor. Damit soll gerechtfertigt werden, hunderte Milliarden Euro in die deutsche Aufrüstung zu stecken, finanziert
durch den Abbau von Sozialleistungen.
So fällt den etablierten Parteien nichts anderes ein, als an ihrem Russland-Feindbild und den ideologisch-moralistischen „Narrativen“ von einer Freiheit, die zu
verteidigen sei, festzuhalten – obwohl derartigen Feindbildern längst die Luft ausgegangen ist. Während wir in Deutschland gebetsmühlenhaft von einem nicht-provozierten Angriffskrieg Putins
reden, macht Trump inzwischen seinen Vorgänger Joe Biden für den Krieg verantwortlich und beschuldigt Zelensky, den russischen Angriff provoziert zu haben.
Während es bei uns heißt, Putins angeblicher Imperialismus habe den Krieg verursacht, spricht Trump aus, was wir schon immer wussten: Es war die von Biden und den
amerikanischen Neocons vorangetriebene Nato-Erweiterung um die Ukraine, die zu dem Krieg geführt hat. Trump setzt noch einen drauf: Er könne „Putin sogar verstehen“. In Deutschland würde man
dafür seinen Job verlieren.
Die neue US-Regierung spricht auch nicht von einem bevorstehenden russischen Angriffskrieg. Bereits im letzten Jahr stellten die sieben US-Geheimdienste in einem
gemeinsamen Bericht fest, dass ein russischer Angriff auf ein Nato-Land mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen sei.
Nibelungentreue deutsche Vasallen
Was nun? Dem nibelungentreuen deutschen Vasallen ist der Herr und Meister abhandengekommen, und zwar ausgerechnet vor der Bundestagswahl. Also werden der verlorene
Ukrainekrieg und die massiven Aufrüstungsanstrengungen aus dem Wahlkampf herausgehalten.
Die etablierten Medien machen mit. Will man die Wahlchancen für einen Merz und Kiesewetter, einen Scholz und Pistorius, einen Habeck und eine Baerbock oder gar
einen Lindner und eine Strack-Zimmermann absichern? Soll Deutschland weiterhin von Politikern regiert werden, die sich an einem Krieg mit hunderttausenden Toten beteiligen, in dem nun auch
Deutschland zum Verlierer wird?
Dass die Medien enttäuschte Wähler in die Arme der AfD treiben und die Zukunft Deutschlands noch unberechenbarer machen, wird in Kauf genommen. Denn auch eine
Weidel und ein Chrupalla werden sich als Retter nicht eignen. Abgesehen von ihrem radikal nationalistischen Flügel wollen sie die anderen Parteien noch übertrumpfen, indem sie fünf Prozent des
Sozialprodukts für Aufrüstung fordern, was nur über eine neoliberale Wirtschaftspolitik, gigantische weitere Schulden und einen massiven Sozialabbau zu finanzieren wäre. Neue Abhängigkeiten von
amerikanischen Oligarchen werden uns sicherlich auch nicht guttun.
Den Preis für die Verantwortungslosigkeit deutscher Politiker von Merz bis Weidel und von Scholz bis Habeck zahlen dann vor allem die Rentner und Kleinverdiener,
die Arbeiter und Angestellten, die Familien und unsere Kinder sowie die mittelständischen Industrien. Die Großen und Reichen verlagern ihr Kapital und wandern aus; die USA haben bereits die
nötigen Anreize geschaffen.
Wenn wir retten wollen, was noch zu retten ist, muss Deutschland eine unmissverständliche Wende in allen Bereichen seiner Politik machen. Wir müssen den Weg zurück
zu einer Friedenspolitik finden und endlich unsere eigenen Interessen formulieren und danach handeln. Dazu müssen wir mit unseren östlichen Nachbarn auskommen und allen voran mit Russland und
China ein vertrauensvolles Verhältnis aufbauen und Handel treiben.
Für die Mitgliedsländer der EU sind die Brics-Staaten nicht nur strukturell und wirtschaftlich, sondern auch politisch zunehmend wichtige Partner. So
entstünde eine neue geopolitische Konstellation, innerhalb derer beide Staatengemeinschaften, EU und Brics, auf eine friedliche, auf der UN-Charta aufbauende, multipolare Weltordnung ohne
Militärbündnisse hinarbeiten könnten.
Zugleich müssen wir den inneren Frieden bewahren, indem soziale Gerechtigkeit zum wichtigsten Ziel unserer Politik wird. Aufrüstung und Waffenhandel, militärische
Interventionen oder die Aufstellung von US-Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden helfen dabei ganz und gar nicht. Wir brauchen einen radikalen Neuanfang, und zwar dringend.
JEFFREY SACHS: „BAERBOCK WAR IM GRUNDE KRIEGSMINISTERIN, KEINE DIPLOMATIN“
Der US-Ökonom Jeffrey Sachs ruft die Bundesregierung auf, sich für Verhandlungen in der Ukraine einzusetzen.
Ein Interview. 02.02.2025 06:03 Uhr
Jeffrey Sachs ist ein weltweit gefragter Experte. Das Times Magazine zählte ihn zu den 100 einflussreichsten Wissenschaftlern der Welt. Der Ökonom ist gut vernetzt,
er hat die letzten drei UN-Generalsekretäre, die wichtigsten internationalen Institutionen und zahlreiche Regierungen beraten. Gerade kommt er aus
Hongkong zum Gespräch in ein Hotel in Frankfurt am Main, wo er sein neuestes Buch „Diplomatie oder Desaster. Zeitenwende in den USA – ist Frieden möglich?“, das im Westend-Verlag erschienen ist,
präsentiert. Die Berliner Zeitung sprach mit ihm über den Krieg in der Ukraine, die Pläne von Präsident Trump und die Verantwortung der deutschen Bundesregierung.
Mr. Sachs, Donald Trump wurde erneut zum US-Präsidenten gewählt. Er hat angekündigt, den Krieg in der Ukraine schnell zu beenden. Glauben Sie
ihm?
Ja, ich glaube, dass der Krieg bald beendet sein wird. Ich denke nicht, dass die USA die Ukraine weiter bewaffnen oder finanzieren werden. Das ist nicht in Amerikas
Interesse. Es ist nicht im Interesse der Ukraine und es ist nicht im Interesse Europas. Dieser Krieg sollte beendet werden. Er hätte vermieden werden können.
Zur Person
Jeffrey Sachs (70) ist Ökonom und Leiter des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia University in New York sowie Präsident des UN Sustainable
Development Solutions Network. Von 2001 bis 2018 war er Sonderberater der UN-Generalsekretäre Kofi Annan, Ban Ki-moon und António Guterres sowie für die globalen Institutionen IWF, Weltbank, OECD
und WTO. Zuletzt ist von Jeffrey Sachs erschienen: „Diplomatie oder Desaster. Zeitenwende in den USA – ist Frieden möglich?“, Westend-Verlag, 176 Seiten, 20 Euro
Sie haben einmal behauptet, Trump habe sich während seiner ersten Amtszeit nicht gegen den sogenannten tiefen Staat durchsetzen können. Können Sie mir
erklären, was Sie damit meinen?
Nehmen Sie den Fall der Ukraine. Dieser Krieg ist das Ergebnis eines langfristigen Projekts des Sicherheitsstaates der Vereinigten Staaten. Und damit ist der
militärisch-industrielle Komplex gemeint, einschließlich des Pentagon, der CIA und der anderen Sicherheitsinstitutionen. Deren Ziel war es, die Nato auszuweiten, Russland einzukreisen, zu
schwächen und möglicherweise einen Regimewechsel herbeizuführen oder das Land aufzuteilen.
Die offizielle Zielsetzung der Biden-Regierung lautete aber, dass die Ukraine gegen den Einmarsch der russischen Armee verteidigt werden soll.
Die USA verfolgen das Ziel, Russland zu destabilisieren, bereits seit dem Ende der Sowjetunion. Wir können uns alle daran erinnern, dass 1990 Hans-Dietrich Genscher
und James Baker, die beiden Außenminister Deutschlands beziehungsweise der USA, der Sowjetunion versprachen, dass die Nato sich keinen Zentimeter nach Osten ausweiten werde. Doch die USA
beschlossen, dieses Versprechen zu brechen. Sobald die Sowjetunion am Ende war, wurde die Nato zunächst auf Polen, Ungarn und die Tschechische Republik ausgedehnt, später noch weiter in Richtung
Osten auf die baltischen Länder, auf Rumänien, Bulgarien, die Slowakei und Slowenien. Auf dem Nato-Gipfel 2008 in Bukarest gab es schließlich die Zusage, die Ukraine und Georgien aufzunehmen. Die
damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel wusste, dass dies eine sehr schlechte und provokative Idee war. Merkel versuchte, sich dagegen zu wehren. Aber am Ende hat sie nachgegeben. Sie blockierte
den Plan, sich auf ein bestimmtes Datum festzulegen, stimmte aber der Erklärung zu, dass die Nato sich 2014 um die Ukraine und Georgien erweitern werde.
Wie groß ist der Anteil der USA an der Eskalation der Ukrainekrise?
Die Vorstellung, die USA würden Russland einkesseln oder einen Regimewechsel herbeiführen können, war absurd und zum Scheitern verurteilt. Das aggressive Vorgehen
hätte zu einem Atomkrieg führen können. Aber der tiefe Staat in den Vereinigten Staaten ist nicht sehr vernünftig, und er beschloss, das Risiko einzugehen. Lange Zeit wussten die deutschen
Verantwortlichen, dass es leichtsinnig war. Aber auch Bundeskanzler Olaf Scholz stellte sich schließlich ganz auf die Seite der Vereinigten Staaten. Diese Haltung ist leider unter vielen
deutschen Politikern verbreitet.
Trump hat ein neues goldenes Zeitalter für die USA ausgerufen. Wie beurteilen Sie seine Wirtschaftsstrategie?
Ich denke, für Elon Musk wird es wahrscheinlich ein goldenes Zeitalter werden. Aber nicht viele Menschen haben ein persönliches Vermögen von 400 Milliarden Dollar.
Für den Durchschnittsamerikaner steht kein goldenes Zeitalter bevor. Die USA sind eine Art Plutokratie, in der Geld wählt und das Volk wenig Macht hat. Die Wahlkampagnen sind ziemlich teuer. Im
Wahlkampf wurden etwa 16 Milliarden Dollar ausgegeben. Die CEOs der großen Tech-Unternehmen haben das meiste Geld zur Verfügung gestellt. Sie haben sich auf Trumps Seite gestellt und ihr Reichtum
ist seit dem Wahltag stark angestiegen.
Die erste wirtschaftspolitische Maßnahme von Trump wird wahrscheinlich eine Fortsetzung der Steuersenkungen für US-Unternehmen sein. Und das ist natürlich sehr
freundlich für den Technologiesektor. Dazu wird er die Sozialausgaben kürzen wollen. Das wird für den Durchschnittsbürger ziemlich hart.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat vorgeschlagen, dass die Europäer mehr Waffen und mehr Flüssigerdgas aus den USA kaufen, um Trump zu
besänftigen. Ist das die richtige Strategie?
Natürlich wollen die USA teures Flüssigerdgas und Rüstungsgüter an Europa verkaufen. Aber das liegt nicht im europäischen Interesse. Europa braucht seine eigene
Außenpolitik. Es braucht eine eigene Wirtschaftspolitik. Es muss verstehen, dass Trump kein Pro-Europäer ist. Europa befindet sich im Moment in einer miserablen wirtschaftlichen Lage. Es verfügte
über eine kostengünstige Versorgung mit Primärrohstoffen aus Russland und der Ukraine. Doch es spielte das Spiel der Nato-Erweiterung mit und verlor sowohl sein günstiges Gas als auch seine
kostengünstigen Ressourcen aus der Ukraine. Die Preise in Europa sind in die Höhe geschossen. Die Wirtschaft stagniert oder schrumpft. Die Wachstumsaussichten sind gleich null. Die deutsche
Industrie macht dicht. Und das alles nur, um ein Spiel der USA zu spielen. Der Kanzlerkandidat der CDU, Friedrich Merz, hat dazu noch deutsche Unternehmen aufgerufen, ihre Investitionen in China
zu überdenken. Das ist eine amerikanische Deep-State-Linie. Das ist nicht im deutschen Interesse, denn China ist einer der wichtigsten Märkte für die deutsche Industrie.
Die Abkehr vom russischen Gas ist von der Bundesregierung gewollt. Erklärtes Ziel ist die Transformation der Industrie. Durchläuft die deutsche Wirtschaft
eine notwendige Schocktherapie?
Das ist keine Therapie. Hier wird eine Politik verfolgt, die den Interessen Deutschlands absolut zuwiderläuft. Deutschlands Interesse ist es, mit Russland Handel zu
treiben, um günstiges Gas und Rohstoffe aus Russland und der Ukraine zu bekommen, Frieden in dieser Region zu haben und mit China Handel zu treiben. Was tut Deutschland stattdessen? Es stellt den
Handel mit Russland ein, kauft amerikanische Waffen und verlängert den Krieg in der Ukraine. Zu guter Letzt folgt Deutschland den USA in einen kalten oder vielleicht bald heißen Krieg mit
China.
Um die Rüstungskapazitäten zu steigern, soll Deutschland einen höheren Anteil seines Bruttoinlandsprodukts zur Verfügung stellen. Vielleicht könnte dann die
Militärhilfe der Amerikaner für die Ukraine kompensiert werden?
Natürlich könnte Europa seine Wirtschaft weiter ruinieren, wenn es sie militarisiert. Das wäre eine Tragödie für Europa, aber es könnte in zehn Jahren so weit sein.
Jedoch wird es nicht zehn Jahre dauern, bis Russland die Ukraine besiegt. Es werden wohl eher zehn Wochen oder zehn Monate sein. Anstatt von einer Niederlage zu sprechen, sollten wir versuchen,
eine Verhandlungslösung finden. Wir müssen die Diplomatie wiederherstellen. Denn ohne Diplomatie gibt es weder wirtschaftlichen noch sozialen Erfolg oder Sicherheit. Deutschland hat die
Diplomatie in dieser Zeit aufgegeben. Die scheidende Außenministerin, Annalena Baerbock, war, wie unser Außenminister, im Grunde eine Kriegsministerin, keine Diplomatin.
Die Sabotage der Nord-Stream-Pipeline symbolisiert den Niedergang der deutschen Wirtschaft. Die Energiepreise sind rapide gestiegen. Es ist auffällig, dass
die Bundesregierung kaum einen Schritt unternimmt, um den Anschlag zu untersuchen. Sie haben einmal gesagt, dass die USA hinter den Anschlägen stecken. Also, wer sind die
Attentäter?
Man kann in Seymour Hershs detaillierter Recherche nachlesen, wie es gemacht wurde. Ich erinnere an die Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz, der am 7. Februar
2022 im Weißen Haus stand, als ein Reporter Biden fragte: Was werden Sie tun, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert? Biden antwortete, Nord Stream 2 werde es dann nicht mehr
geben. Und auf die Frage, wie er das werde tun wollen, antwortete Biden: „Ich verspreche Ihnen, dass wir das schaffen.“ Die Berichterstattung in Deutschland ist einigermaßen absurd. Es wird
die Legende verbreitet, dass sechs Ukrainer in einem Segelboot die Pipeline gesprengt haben. Doch handelte es sich um eine gewaltige Operation, die massive technische Unterstützung erforderte. Es
wurde eine sehr große Menge Sprengstoff benötigt. Material, das nicht in ein Segelboot mit sechs Personen passen würde. Aber selbst wenn es wahr wäre, sollte sich die deutsche Regierung fragen:
Warum ruinieren wir die deutsche Wirtschaft, wenn sechs Ukrainer im Auftrag des ukrainischen Geheimdienstes unsere Energieversorgung in die Luft sprengen?
Haben Sie mit Politikern über den Nord-Stream-Fall gesprochen?
Ja, ich habe mit vielen Leuten gesprochen. Ich habe vor dem UN-Sicherheitsrat gesagt, dass es eine unabhängige Untersuchung geben sollte. Doch der amerikanische
Botschafter sagte, eine unabhängige Untersuchung sei nicht nötig, weil Deutschland, Dänemark und Schweden ermitteln würden. Ich war von dieser Antwort nicht sehr überzeugt, weil mir klar war,
dass die Nato nicht gegen sich selbst ermitteln würde.
Ihr Rat an die deutsche Regierung wäre also, die Nord-Stream-Pipelines wieder zu öffnen?
Ja, natürlich. Deutschland opfert seine Wirtschaft. Die deutsche Industrie ist nicht mehr wettbewerbsfähig. Dieser Weg macht keinen Sinn. Deutschland kann in einem
Zeitraum von 20 oder 30 Jahren wie alle anderen auch auf ein kohlenstofffreies Energiesystem umsteigen. Aber das von einem Tag auf den anderen zu tun, ist keine gute Idee.
Wenn Deutschland an dem Wirtschaftskurs festhält: Wie lange wird die Krise noch andauern?
Wenn der Ansatz von Herrn Merz sich durchsetzt, dass die deutsche Wirtschaft auf Distanz zu China geht, hat Deutschland weitere zehn oder 20 Jahre Schwierigkeiten.
Deutschland würde seine Lieferketten nach Osten dann völlig aufgeben. Woher soll dann Wachstum kommen? Es wird nicht auf dem US-Markt erzielt werden, denn Trump wird Deutschland mit Zöllen
konfrontieren. Deutschland würde dann ohne wirtschaftliche Absatzmöglichkeiten dastehen.
Es gab bereits Gespräche von westlichen Politikern mit Russlands Präsident Wladimir Putin. Doch zu einem Durchbruch für einen Waffenstillstand haben sie
nicht geführt. Wie können Verhandlungen effektiv vorangebracht werden?
In diesem Konflikt gibt es vier Parteien. Das sind die Vereinigten Staaten, Russland, die Ukraine und die Europäische Union. An den Verhandlungen sollten alle diese
Parteien beteiligt sein. Es war ein Fehler, Verhandlungen auszuschließen, und sich auf den Standpunkt zurückzuziehen, dass die Ukraine entscheidet, was zu tun ist. Die EU sollte sich nicht in die
Abhängigkeit von Selenskyj begeben. Trump wird das definitiv nicht tun. Selenskyj ist nicht einmal mehr ein verfassungsmäßig gewählter Präsident. Er hat kaum mehr Unterstützung im Land. Dieses
Regime, das in der Ukraine an der Macht ist, schickt Tausende junge Ukrainer sinnlos in den Tod.
Selenskyjs Macht hängt am seidenen Faden. Trump könnte mit Putin zu einem Friedensschluss kommen und die Militärhilfe für die Ukraine einstellen. Können die
Europäer das Zünglein an der Waage sein?
Ich vermute stark, dass Putin und Trump mit oder ohne Selenskyj zu Verhandlungen kommen werden. In den letzten Wochen habe ich den europäischen Staats- und
Regierungschefs gesagt, dass Europa mit am Tisch sitzen sollte, weil es in dieser Frage auch um die Sicherheit Europas geht. Es ist ein Fehler, dass die EU-Außenbeauftragte, Kaja Kallas, an ihrem
ersten Arbeitstag nach Kiew gefahren ist, aber nicht nach Moskau. Es ist einfach, nach Kiew zu gehen. Aber die eigentliche Aufgabe eines Diplomaten ist es, nach Moskau zu reisen.
Bundeskanzler Scholz hat mit Putin telefoniert und danach erklärt, Russland habe kein ernsthaftes Interesse an einem Friedensschluss. Wie sollen die
Europäer ein Abkommen erreichen?
Biden hatte Interesse daran, dass der Krieg weitergeht. Selbst wenn Bundeskanzler Scholz direkt mit Putin gesprochen hätte, hätte das die Probleme nicht lösen
können. Die USA befanden sich auf dem Kriegspfad. Sie wollten den Krieg, weil sie der Meinung waren, dass Russland in einer direkten Konfrontation verlieren würde. Sie dachten, dass die
Wirtschaftssanktionen, die Wunderwaffen der Nato und die fehlende Unterstützung in der russischen Bevölkerung Russland eine Niederlage bescheren würde. Ich habe den US-Vertretern zu Beginn
gesagt, dass sie sich irren. Ich glaube, dass sie nicht wussten, was sie taten. Ich halte die Biden-Regierung für völlig inkompetent. Ich will damit sagen, dass Scholz seine diplomatischen
Schritte zu einer Zeit unternommen hatte, als die Vereinigten Staaten es nicht taten. Jetzt werden die USA verhandeln, auch wenn Europa nicht dabei ist. Im Kern muss es den Europäern gelingen,
eine gemeinsame Position zu erarbeiten. Davon ist jedoch derzeit wenig zu sehen. Die EU hat ihren diplomatischen Kurs immer mehr an russophoben Regierungen wie in Estland, Lettland oder Polen
ausgerichtet. Europa darf seine Außenpolitik um Himmels willen nicht dem Baltikum überlassen. Das ist nur ein kleiner Teil Europas, der stark von der Nato unterstützt wird. Europa sollte schnell
handeln, denn Trump verhandelt bereits mit Putin. Russland hat wiederholt erklärt, dass es eine neue europäische Sicherheitsarchitektur anstrebt. Europa sollte daran anknüpfen. Die OSZE käme dem
am nächsten. Leider ist sie angesichts der US-Politik nahezu handlungsunfähig geworden. Ich würde es begrüßen, wenn die OSZE-Prinzipien auf der Grundlage der kollektiven Sicherheit
wiederhergestellt würden. Europa würde dann nicht mehr unter dem Sicherheitskonzept der Nato stehen. Statt neue amerikanische Mittelstreckenraketen in Deutschland zu positionieren, sollte Europa
einen Übergang zu kollektiven Konzepten für Rüstungskontrollen einleiten.
UKRAINEKRIEG: NEUE EU-RESOLUTION BRINGT EUROPA AN DEN RAND DES DRITTEN WELTKRIEGS
Das Europaparlament hat einen Aufruf zur Unterstützung der Ukraine verabschiedet. Doch der Inhalt gleicht beinahe einem Aufruf zum 3. Weltkrieg. Ein
Gastbeitrag.
29.11.2024 aktualisiert am 29.11.2024 - 20:20 Uhr
Am Donnerstag verabschiedete das Europäische Parlament eine weitere Resolution mit dem martialisch anmutenden Titel „Verstärkung der unerschütterlichen
Unterstützung der EU für die Ukraine gegen Russlands Angriffskrieg und die zunehmende militärische Zusammenarbeit zwischen Nordkorea und Russland“. Diese Resolution wurde mit einer
Mehrheit aus Konservativen, Sozialisten, Liberalen und Grünen angenommen. Die darin enthaltenen Forderungen lassen selbst einem neutralen Beobachter das Blut in den Adern gefrieren.
Bereits im Juli hatte das Parlament eine Resolution verabschiedet, in der faktisch zu einem totalen Krieg gegen Russland ausgerufen wurde. Doch diese neue
Resolution geht noch weiter – sie gleicht beinahe einem Aufruf zum Dritten Weltkrieg.
EU-Resolution kennt nur Eskalation – kein Ansatz für Diplomatie
Das Europäische Parlament erklärt darin, dass die Drohungen Russlands, auf Angriffe mit Nuklearschlägen zu reagieren, die EU keinesfalls davon abhalten würden, die
Ukraine weiterhin militärisch zu unterstützen. Und dann wird es konkret: Gefordert werden die sofortige Lieferung von Kampfflugzeugen und Langstrecken-Marschflugkörpern, einschließlich der
Taurus-Marschflugkörper. Bemerkenswert ist, dass die Resolution keinerlei Einschränkungen für den Einsatz dieser Waffen vorsieht – ganz Russland könnte somit zum Ziel erklärt werden.
Lobend wird angemerkt, dass Frankreich, das Vereinigte Königreich und die USA ihre Marschflugkörper (SCALP, Storm Shadow und ATACMS) bereits für Angriffe auf
russisches Gebiet freigegeben haben. Dass diese hochkomplexen Waffensysteme in der Regel von Nato-Soldaten bedient werden müssen und dies somit eine direkte Nato-Beteiligung im Ukrainekrieg
bedeuten würde, wird in der Resolution nicht erwähnt. Auch die möglichen Reaktionen Russlands auf eine solche Eskalation bleiben unerwähnt.
Von der Gefahr, dass ein direkter Nato-Angriff auf Russland einen Dritten Weltkrieg und möglicherweise einen nuklearen Konflikt auslösen könnte, findet sich kein
Wort. Ebenso wenig wird thematisiert, dass ein solcher Krieg zwangsläufig auf europäischem Boden ausgetragen werden würde und welche verheerenden Konsequenzen das für die europäischen Bürger
hätte. Doch warum auch? Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments agieren in einer abgeschotteten Blase, die offenbar längst den Bezug zur Realität außerhalb ihrer Institution verloren
hat.
Die 13-seitige Resolution liest sich wie eine Liste aus Anschuldigungen, Drohungen, Forderungen nach Waffen- und Munitionslieferungen, Bitten um mehr Geld für den
Krieg und Aufrufen zu weiteren Sanktionen. Doch eine Sache fehlt gänzlich: ein Ansatz für eine friedliche Lösung des Konflikts. Kein einziger Satz ist diplomatischen Schritten oder Verhandlungen
gewidmet. Das Ziel der Parlamentsmehrheit ist klar: der Sieg über Russland – koste es, was es wolle.
EU-Parlament will Fakten schaffen, bevor Trump seine Arbeit aufnimmt
Die Zeit drängt offenbar. Während der Debatte wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass das Zeitfenster klein sei, da die Amtseinführung von Donald
Trump als US-Präsident bevorsteht. Ziel sei es, Russland in den verbleibenden Wochen noch in die Knie zu zwingen. Zwar fordert die Resolution die EU-Mitgliedsstaaten auf, bei einem künftigen
Präsidenten Trump vorstellig zu werden und ihn von der Notwendigkeit eines Sieges über Russland zu überzeugen. Doch dieser Appell klingt wenig überzeugend. Es könnte gar zu der bizarren Situation
kommen, dass ausgerechnet Trump die Europäer vor der Kriegshysterie ihrer politischen Eliten bewahrt.
Diese Resolution ist ein Dokument voller Hass, Panik und Hysterie – ein beschämender Ausdruck von Verantwortungslosigkeit und Empathielosigkeit für die vielen Opfer
einer derartigen Kriegshysterie. Für uns Europäer gibt es daran nichts, worauf wir stolz sein könnten. Glücklicherweise wird diese Resolution wohl kaum direkte politische Auswirkungen auf den
Ukrainekrieg haben. Das Europäische Parlament hat lediglich erneut unter Beweis gestellt, dass es sich in vielen Fragen wie eine „Entscheidungsattrappe“ verhält – in diesem Fall ein Glück für uns
alle.
Für mich, der ich immer ein glühender Anhänger der europäischen Idee gewesen bin, ist es schmerzhaft, die Debatten einer kriegslüsternen und hasserfüllten
Parlamentsmehrheit mitanzuhören. Ich frage mich dann: Was für ein Monster haben wir mit der EU erschaffen?
Michael von der Schulenburg ist Abgeordneter im Europaparlament für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und ehemaliger Assistant Secretary-General der Vereinten
Nationen. Er hat in vielen Konfliktregionen der Erde gearbeitet, unter anderem bei Langzeitmissionen in Afghanistan, Haiti, Pakistan, Iran, Irak und Sierra Leone, aber auch in Syrien, Somalia,
Zentralasien, auf dem Balkan und in der Sahel-Region. 2017 publizierte er das Buch „On Building Peace – Rescuing the Nation-State and Saving the United Nations“.
„Wenn die Kinder dieser Großmäuler an die Front müssten, wäre der Krieg morgen vorbei“
Lesetipp: Patrik Baab: Propaganda-Presse. Wie uns Medien und Lohnschreiber in Kriege treiben. Verlag Hintergrund, 17. Juli 2024, 128 Seiten, 14,80 Euro.
Ukraine-Krieg: "Schon nach deutscher Einigung waren die Weichen auf Konfrontation gestellt"
Dietmar Ringel,
Petra Erler und Günter Verheugen über die deutsche Einheit und den Ukraine-Krieg. Über Sicherheits- und Kriegsordnungen. Und über die Verantwortung Moskaus.
Ein Telepolis-Podcast.
Wer heute von Verständigung und Entspannung im Verhältnis zu Russland spricht, sieht sich schnell als Putin-Unterstützer oder bestenfalls als nützlicher Idiot
hingestellt. Politiker, die einst auf ein gutes Verhältnis zu Russland setzten, gehen heute in Sack und Asche.
Petra Erler und Günther Verheugen haben eine andere Sicht auf die Dinge. Sie sagen, gescheitert sei eine Politik, die glaubt, auf Entspannung verzichten zu können
und es notfalls auf einen Krieg ankommen zu lassen. Genau das werfen sie in ihrem Buch "Der lange Weg zum Krieg", das vor Kurzem bei Heyne erschienen ist, maßgeblichen Entscheidern im Westen vor
und geben ihnen damit eine Mitschuld am Krieg in der Ukraine.
Petra Erler hat am DDR-Institut für internationale Beziehungen in Potsdam-Babelsberg promoviert, war Staatssekretärin in der letzten DDR-Regierung unter Lothar de
Maizière, später im engsten Mitarbeiterkreis von EU-Kommissar Günther Verheugen. Jetzt leitet sie ein Beratungsunternehmen, schreibt außerdem Bücher und Artikel.
Günther Verheugen war vor seiner Zeit in Brüssel in verschiedenen Führungspositionen in der FDP bzw. SPD. Er war Staatsminister im Auswärtigen Amt, später
Co-Vorsitzender des Transatlantischen Wirtschaftsrates. Auch er ist Autor und Publizist.
Dietmar Ringel hat im Telepolis-Podcast mit beiden gesprochen.
▶ Was hat Sie angetrieben, dieses Buch zu schreiben?
Petra Erler: Ein wesentliches Motiv war, dass wir wieder in eine Diskussion kommen müssen in diesem Land, wie wir in Europa zusammenleben
wollen. Mit Blick auf eine 30-jährige Eiszeit, einen permanenten kalten Krieg, der jederzeit in einen heißen umschlagen kann, oder doch mit einer Politik der Verständigung, die ihre erfolgreichen
Wurzeln in der Vergangenheit hat.
Günter Verheugen: Mein Hauptmotiv war, nicht hinzunehmen, dass in unserem Land eine Mauer des Schweigens errichtet wird. Ich habe es in meinem
langen politischen Leben noch nicht erlebt, dass öffentliche Meinung so einseitig gesteuert wird, wie das im Fall des Ukrainekrieges geschieht. Hier wird eine Erzählung verbreitet, die einfach
nicht stimm. Ich halte es für absolut notwendig, ein Stück Gegenöffentlichkeit herzustellen und unserer Gesellschaft die Möglichkeit zu geben, einen anderen, objektiveren Blick auf das zu
werfen, was geschehen ist. Denn kein Krieg fällt vom Himmel, kein Krieg ist voraussetzungslos. Nur bei diesem Krieg wird so getan, als hätte es keine Vorgeschichte gegeben.
▶ Stichwort Vorgeschichte. Sie schlagen einen weiten Bogen. Wo muss man ansetzen, um zu verstehen, wie es zu dieser Konfrontation kommen konnte?
Petra Erler: Wir haben uns entschieden, nicht 1917 anzufangen, aber schon mit dem Zweiten Weltkrieg und der daraus entstehenden
Nachkriegsordnung. Denn die Wurzeln von allem liegen in der europäischen Teilung und ihrer Überwindung. Wenn man sich den deutschen Einigungsprozess
anguckt, stellt man fest, dass es damals zwei Optionen gab: Eine transatlantische Sicherheitsstruktur von Wladiwostok bis Vancouver. Das war der Geist dessen, was die Europäer und auch die
Amerikaner 1990 noch unterschrieben.
Die zweite Option war, die Russen auszugrenzen und die Nato zu erweitern und damit eine westeuropäisch-transatlantisch dominierte Sicherheitsstruktur zu schaffen.
1994 war die Entscheidung klar. Die Nato wollte bestimmen, wie Sicherheit sich in Europa definiert und umgesetzt wird. Russland wurde nach außen
gedrängt, und alle Versuche, Russland wieder auf einer gleichberechtigten Grundlage ins Gespräch zu bringen, sind gescheitert. Und wenn die Nato heute
sagt, wir haben ein Bündnis, das offen für alle ist, mag das gut und schön sein. Für ein Land galt es nicht, und das war Russland.
Günter Verheugen: Seit 1989, also seit die Möglichkeit der deutschen Einigung sichtbar wurde, stand nicht das
deutsche oder europäische Interesse im Vordergrund, sondern eindeutig das amerikanische. Es sagt vieles, dass die erste Reaktion der Amerikaner nach Kohls Rede im Bundestag damals, wo er eine
deutsche Konföderation anvisiert hatte, war: Unter keinen Umständen darf die Nato infrage gestellt werden. Was im Klartext heißt: Unter keinen Umständen darf die amerikanische Führungsrolle in
Europa infrage gestellt werden.
▶ Es gab viele Chancen für eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und später mit Russland: Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die
Ost-West-Verträge, es gab Rüstungskontrollvereinbarungen, sogar reale Abrüstungsschritte. Warum gab es nicht das Momentum, dass daraus etwas Dauerhaftes wird?
Petra Erler: Die Antwort ist in Washington zu suchen. Als es 1990 die Option gab, eine gemeinsame Sicherheitsstruktur
zu schaffen, war das noch die Politik des alten Präsidenten Bush Senior. Aber schon in den Spätzügen seiner Präsidentschaft gab es Leute, die Russland
am liebsten zerstören wollten, die den Zerfall der Sowjetunion gerne zum Ausgangspunkt genommen hätten, auch Russland zu erledigen. Dahinter versteckt sich jahrzehntelanger, ideologisch bedingter
Russenhass. 1992 hat sich diese Politik noch nicht durchgesetzt, aber 1994 war es vollständig klar, dass die Amerikaner in Europa bleiben wollten und Russland intern als neuen Hauptgegner
definiert hatten. Nicht alle haben die deutsche Einigung mit großer Freude betrachtet, manche hatten Angst vor uns. Was passiert mit diesem großen Land?
Die Idee, die damals noch von Busch und Gorbatschow vertreten wurde, war: Man kann das auch gemeinsam gestalten. Die ist später vollständig verschwunden. Und man muss unserem Land schon den
Vorwurf machen, dass es dabei willig mitgemacht hat.
Günter Verheugen:Ich war ja in den
90er-Jahren dabei, zwar in der Opposition, aber als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. Und da konnte ich einigermaßen verfolgen, was passierte.
Mein Eindruck war, dass es im Westen, nicht überall, aber vor allem in weiten Teilen der amerikanischen Politik und Öffentlichkeit, eine Siegermentalität
gab. Das hat Präsident Bush auch sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Er hat gesagt, wir haben gewonnen und die haben verloren – Ende der Fahnenstange. Schon kurz nach der deutschen Einigung
gab es keine Bereitschaft mehr, kooperative Strukturen zu schaffen, sondern die Weichen waren auf Konfrontation gestellt.
Das muss man einfach wissen, wenn man darüber nachdenkt, wie wir in diese Lage gekommen sind, in der wir uns heute befinden. Mit einem schrecklichen Krieg in
Europa, der das Potenzial hat, uns alle mit sich zu reißen.
▶ Sie richten schwere Vorwürfe an den Westen. Hat Russland eine Mitverantwortung dafür, dass es so weit gekommen ist?
Petra Erler: Selbstverständlich hat Russland eine Mitverantwortung. Russland hat 2014 die Krim annektiert, und
Russland hat 2022 zum kriegerischen Mittel gegriffen und damit einen Grundsatz verletzt, den es bis dahin im UNO-Sicherheitsrat energisch verteidigt hatte, nämlich das Prinzip des Gewaltverzichts
gegenüber jedem anderen Staat.
Die Frage ist nur: Warum ist das propagandistisch in unserem Land plötzlich als Spezialverbrechen behandelt worden? Die Geschichte seit 1991 ist eine Geschichte von
Regime-Changes und Kriegen, die allesamt vom Westen ausgingen. Warum wurde das Verhalten Russlands dann plötzlich als der Bruch einer angeblichen europäischen Sicherheitsordnung bezeichnet? Als
Beispiel für eine imperiale russische Aggression? Dafür gibt es keine Belege.
Hier zeigt sich, dass diejenigen, die schon 1991 davon träumten, Russland ein für alle Mal kleinzumachen, längst die geistige Oberhoheit gewonnen
hatten.
Russland ist ein Land mit elf Zeitzonen. Es ist nicht nur groß, es ist auch unendlich reich. In der internationalen Politik geht es bei der Betrachtung der
russischen eurasischen Landmasse immer auch um die Frage, wer die Welt beherrschen kann.
Günter Verheugen: Wenn man betrachtet, wann, wie und wo die Krise, in der wir uns heute befinden, wirklich heiß und
explosiv wurde, dann kommen wir in die Jahre 2013 und 2014. Dann sind wir beim sogenannten Maidan, der von vielen jubelnd begrüßt wurde, aber in Wahrheit nichts anderes war als eine
Regime-Change-Operation. Man kann auch sagen, ein von außen gelenkter Staatsstreich.
Und dieser Staatsstreich, dieser Putsch in der Ukraine, war der Ausgangspunkt eines Bürgerkrieges in diesem Land. Wir haben Krieg in der Ukraine nicht erst seit
2022. Wir haben diesen Krieg seit Frühjahr 2014, seit der sogenannten Anti-Terror-Operation gegen die russischen Separatisten im Donbass. 2022 gab es eine Eskalation dieses Krieges, der bereits
andauerte.
▶ Von russischer Seite heißt es, diese Eskalation sei zwangsläufig gewesen, weil russische Sicherheitsinteressen massive verletzt worden seien. Die Ukraine müsse
entnazifiziert und demilitarisiert werden, um Russland zu schützen. Was sagen Sie dazu?
Petra Erler: Gehen wir noch mal ins Jahr 2008 zurück. Wir wissen dank Wikileaks, dass die Amerikaner - und damit wohl
alle anderen auch – gewusst haben, dass die dickste aller roten Linien Russlands darin bestand, die Ukraine in die Nato einzuladen. Zumal die ukrainische Bevölkerung auch mehrheitlich dagegen
war. Es war die Idee des damaligen ukrainischen Präsidenten Juschtschenko, der den Amerikanern damit einen großen Traum erfüllte.
Wir reißen die Ukraine aus dem russischen Orbit, können ganz nah mit unseren militärischen Strukturen an Russland heranrücken und werden auf diese Art und Weise
Russland ins Herz treffen. Das war die Überlegung. Und wir wissen auch, dass der russische Präsident Putin damals ganz deutlich gesagt hat, er wolle sich keine Situation vorstellen, in der
Russland gezwungen sein könnte, seine Waffen gegen die Ukraine zu richten.
Aus dem Jahr 2014 wiederum wissen wir, dass Russland den Separatismus im Donbass keineswegs zum Anlass genommen hat, diese Gebiete zu annektieren. Er hat das sogar
ausdrücklich abgelehnt und war bereit, auf dem Weg des Minsker Abkommens eine friedliche Lösung mit dem Westen zu finden.
Das Minsk-II-Abkommen ist ja unter maßgeblicher Beteiligung von Deutschland und Frankreich zustande gekommen und auch vom UN-Sicherheitsrat gebilligt worden. Es
hieß damals, das sei der Weg zur politischen Lösung des Konflikts in der Ukraine und zur Bewahrung ihrer Staatlichkeit. Die Krim wurde dabei übrigens nicht erwähnt.
Im Jahr 2022 erfuhren wir dann, dass der ukrainische Präsident Poroschenko betrogen hatte, denn er wollte dieses Abkommen nie umsetzen. Und wir erfuhren auch, dass
Hollande als französischer Präsident und die deutsche Bundeskanzlerin nur auf Zeit spielen wollten, weil sie von einem angeblich unvermeidlichen Krieg Russlands gegen die Ukraine
ausgingen.
Hinzu kommt, dass der ukrainische Nationalismus auf Krieg mit Russland setzte, anstatt in irgendeiner Art und Weise eine Verständigung zu suchen. Übrigens hat die
EU beim Minsker Abkommen eine ganz unrühmliche Rolle gespielt.
Sie hat die Aufhebung ihrer Wirtschaftssanktionen gegen Russland an die Erfüllung des Minsker Abkommens gebunden, was wiederum auch vom Wohlverhalten der Ukraine
abhängig war.
Es ging also nicht nur darum, was die Separatisten im Donbass machen, sondern auch darum, ob in der Ukraine die vereinbarte Verfassungsreform umgesetzt wird, dass
die Kiewer Zentralregierung sich wieder um die Separatistengebiete kümmert– siehe Rentenzahlung, Gesundheitsleistungen oder den Umgang mit auf beiden Seiten begangenem Unrecht. All das ist nicht
passiert, und der Westen hat es geschehen lassen.
▶ Die Minsker Abkommen waren ein diplomatischer Versuch, den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu entschärfen. Auch nach Beginn des heißen Krieges im
Frühjahr 2022 gab es Ansätze einer Verständigung. Die russische und die ukrainische Seite sollen sich bereits sehr nahe gewesen sein, heißt es, zum Beispiel bei der Frage einer militärischen
Neutralität der Ukraine. Gerade gibt es ganz sanfte Versuche, die Diplomatie wieder ins Spiel zu bringen. Welche Chancen sehen Sie dafür?
Günter Verheugen: Im Augenblick ist nicht die Stunde der Diplomatie. Es ist ganz eindeutig, dass sich die Reihen des
Westens immer fester schließen. Die jüngsten Entscheidungen lassen für mich nur den Schluss zu, dass die Eskalationsbereitschaft ungebrochen ist. Der jüngste Schritt, der Ukraine zu erlauben, mit
vom Westen gelieferten Waffen das russische Staatsgebiet zu treffen, ist in meinen Augen der bisher gefährlichste Schritt in Richtung auf den Abgrund. Deshalb sieht es im Augenblick nicht so aus,
als wollte der Westen der Diplomatie eine Chance geben.
Trotzdem muss jede auch noch so geringe Möglichkeit genutzt werden. Notwendig wäre es im Augenblick, eine einheitliche, klare europäische Position zu schaffen, die
sagt: Wir wollen mit Russland wieder ins Gespräch kommen, wir müssen feststellen, ob es die Möglichkeit eines Kompromisses gibt.
Wie Sie gesagt haben, gab es ja bereits unmittelbar nach Beginn des Krieges Verhandlungen über seine Beendigung. Und ich will darauf hinweisen, dass sich damals
auch unser Bundeskanzler sehr dezidiert dazu geäußert und immer wieder erklärt hat, wir brauchen eine friedliche, eine diplomatische Lösung. Das hörte alles auf, nachdem der amerikanische
Präsident in Warschau praktisch erklärt hatte, wir befinden uns mit Russland in einem Wirtschaftskrieg.
Ich glaube, dass im Westen seit Jahrzehnten das russische Sicherheitsbedürfnis massiv unterschätzt wird. Der Westen hat bei Russland immer Aggressionsabsichten
vermutet, umgekehrt natürlich auch. Ich glaube nicht, dass das berechtigt war. Was die sowjetische und später die russische Außenpolitik bestimmt hat, ist die historische Erfahrung dieses Landes.
Und die besteht darin, dass es überfallen werden kann und dass man deshalb für seine Sicherheit sorgen muss.
▶ Welche Rolle könnte oder sollte Deutschland spielen, wenn es darum geht, die Diplomatie wieder ins Spiel zu bringen?
Petra Erler: Zunächst würde ich mir wünschen, dass die deutsche Politik wieder zurückkehrt zu einem
Realitätsverständnis und nicht länger in einer Fantasiewelt lebt. Wer überzeugt ist, Russland habe es sich auf die Agenda gesetzt, die Nato zu überfallen, gibt eigenen Ängsten und eigenen
Fantasien nach oder versucht, ein Programm der Kriegstüchtigkeit durchzuziehen.
Wichtig wäre es, wieder auf den Boden der Realität zurückzukehren und sich anzuschauen, wie die Lage heute ist. Wir haben damals einen frühen Friedensschuss mit
verhindert, damit hat sich der Charakter des Krieges geändert. Russland hat zu Recht das Gefühl entwickelt, dass wir es ruinieren, zerschlagen, klein machen, in den Staub der Geschichte treten
wollen. Das ist keine angemessene Politik.
Der sogenannte Rest der Welt, also die Mehrheit der Bevölkerung und der Staaten auf dieser Welt, erkennen das. Deswegen ist Russland nicht isoliert, und deswegen
haben China, aber auch Südafrika und Brasilien Vorschläge für Verhandlungen vorgelegt.
Deswegen hat auch der russische Präsident in letzter Zeit wieder ganz deutlich gesagt, er sei bereit zu verhandeln. Und es gibt auch ein völkerrechtliches Gebot,
Konflikte und Kriege auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Wir stehen auf der Seite der Verweigerer.
Es wäre gut, wenn die deutsche und europäische Politik sich mal angucken würde, was der Rest der Welt denkt und was das für die Sicherheit Europas bedeutet. Zu
meinen, dass wir mit Hochrüstung Sicherheit schaffen, ist in Anbetracht der gesamten Geschichte der Menschheit, auch der letzten 70 Jahre, ein Trugschluss.
▶ Frau Erler hat gerade gesagt, Russland sei bereit zu verhandeln. Aber ist das wirklich so? Es gibt zwar entsprechende Bemerkungen des russischen Präsidenten. Er
sagt aber auch, die entstandenen Realitäten müssten anerkannt werden. Und das heißt, die Gebiete, die Russland angegliedert wurden, bleiben russisch. Für die Ukraine ist das ja offensichtlich
keine Option. Sehen Sie also wirklich Verhandlungsbereitschaft bei den Russen?
Günter Verheugen: Verhandlungen mit Vorbedingungen sind sinnlos. Wenn jemand sagt, wir wollen jetzt verhandeln, aber
genau das und das muss dabei auf jeden Fall herauskommen, dann kann man das vergessen.
Man muss zu den guten alten Mitteln der vertraulichen Diplomatie greifen, Gesprächskanäle benutzen, die es ja offenbar immer noch gibt, und feststellen, ob man
einen Rahmen herstellen kann. Wer in der Öffentlichkeit unverzichtbare Bedingungen stellt für diesen Prozess, der sabotiert ihn in Wirklichkeit.
Ich glaube schon, dass Russland ein Interesse an einer Verhandlungslösung hat. Es kann ja nicht langfristig im russischen Interesse liegen, mit dem Westen in einem
Dauerkonflikt zu leben. Die Welt verändert sich ja nicht nur für uns, sie verändert sich auch für Russland. Und Russland ist genauso wie wir auf internationale Kooperation angewiesen. Also ich
glaube schon, dass da ein Interesse besteht.
Petra Erler und ich plädieren ganz entschieden für eine Rückkehr zur Entspannungspolitik. Ich war 1975 bei der Schlussakte von Helsinki schon Mitglied der deutschen
Delegation.
Ich habe diesen Prozess wirklich von Anfang an verfolgt. Wenn wir damals in der Lage waren, mit dem Breschnew-Regime eine vertragliche Vereinbarung zu treffen, die
uns für viele Jahre von der unmittelbaren Sorge eines Atomkrieges befreit hat, dann frage ich mich, warum sollen wir nicht in der Lage sein, mit Putin eine langfristige Vereinbarung zu treffen,
die darauf abzielt, unsere Kräfte zusammenzufassen und nicht gegeneinander ins Feld zu führen.
Petra Erler: Der Kern des Konfliktes ist ja nicht die Ukraine, sondern es geht darum, ob Russland in Europa eine
gleichberechtigte Stimme hat, ob wir bereit sind, elementare russische Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen.
Und deswegen war das Verhandlungsergebnis vom Frühling 2022 auch so interessant – was bei möglichen diplomatischen Kontakten niemand vergessen sollte. Russland
hätte sich aus dem Donbass zurückgezogen, es hätte über die Krim und ihre Zukunft Gespräche geführt.
Im Gegenzug dazu war festgelegt, wie viel Militär es in der Ukraine noch geben sollte, und dass die Ukraine neutral bleibt. Das war das, was Russland wollte. Das
bestätigen auch alle ukrainischen Verhandlungsteilnehmer.
Und das war uns nicht gut genug. Wir wollten es ausgekämpft haben, und das verändert natürlich die Natur des Kampfes. Das bedeutet, wir haben die Strategie
"Siegfrieden" und haben uns der ukrainischen Gesetzeslage angeschlossen, wonach mit Putin nicht verhandelt wird. Solange wir diese Gesetzeslage unterstützen, kann auch niemand im Westen mit Putin
verhandeln.
Auf der anderen Seite möchte ich zu bedenken geben, dass wir vor einem Scherbenhaufen des Vertrauens sitzen. Putin und Russland waren ja im Dezember 2021 mit
Verhandlungsvorschlägen gekommen, die die Nato ganz kühl abgebürstet hat. Sie mussten feststellen, dass wir beim Minsker Abkommen betrogen haben. Und heute, angesichts der vielen feindseligen
politischen Äußerungen, kann der Westen aus russischer Sicht gar nicht als Freund oder als akzeptabler Verhandlungspartner erscheinen.
Wenn wir Verhandlungen wollen und nicht in den nächsten 30 Jahren vor Angst zittern und uns, unsere Kinder und Enkel einmauern, dann müssen wir uns in unserer
Tonart mäßigen.
Aus der Geschichte gibt es ein Beispiel, wie auch hochideologisch verfeindete Länder zusammengearbeitet haben. Das war die Anti-Hitler-Koalition. Die hatte einen
gemeinsamen Feind, Hitlerdeutschland. Stalin, Roosevelt und Churchill konnten zu diesem Zweck miteinander kooperieren. Wenn ich überlege, was die heutigen gemeinsamen Feinde der Menschheit sind,
dann denke ich an die großen globalen Probleme.
Gast im Telepolis-Podcast waren Petra Erler und Günther Verheugen. Ihr Buch "Der lange Weg zum Krieg" ist im Heyne-Verlag München erschienen
Ob SPD oder Grüne: Die Gesellschaft wird rhetorisch derart nach rechts geschoben, dass die AfD nur frohlocken kann. Ein Gastbeitrag.
Ingar Solty
19.05.2024 05:50 Uhr
„Alternative gegen Deutschland“ titelte jüngst der Spiegel, mit Bezug auf mutmaßliche Zahlungen, die der AfD-Europa-Spitzenkandidat Maximilian Krah aus China erhalten haben soll. Ein Mitarbeiter Krahs wurde wegen Spionageverdacht fürdie Volksrepublik verhaftet. Der Spiegel erhob den
Vorwurf des „Landesverrats“.
Mal abgesehen davon, dass ganz allgemein auch Deutschland – nicht zuletzt über seine zahlreichen parteinahen Stiftungen – ausgiebig Akteure im Ausland finanziert
und dass seine Geheimdienste selbstverständlich spionieren: Wer als liberaler Antifaschist glaubt, es sei ein besonders cleverer Schachzug, heute den Begriff des
„Landesverrats“ gegen eine rechtsautoritäre Partei zu wenden, die behauptet, nationale Interessen zu verfolgen, der wird sich morgen wundern, dass er damit diese
illiberale und nationalistische Rhetorik wieder in der politischen Kultur der Bundesrepublik etabliert haben wird.
Linke können ohnehin die Uhr danach stellen, wann sich Strafverfolgung mit Landes- oder gar Hochverratsvorwürfen auch und vor allem wieder gegen sie wenden
wird. Schon in den kommenden Jahren dürfte jeden dieser Bannstrahl treffen, der auch nur leise Zweifel anmeldet und eine offene demokratische Diskussion darüber einfordert, ob Hochrüstung,
Deutschlands Nuklearbewaffnung, die einst allein von postfaschistischen Haudegen wie Franz Josef Strauss, heute aber mit einem frisch, fromm, fröhlich, freien „Ja zur Atombombe“ von Ulrike Herrmann bis JoschkaFischer gefordert wird, tatsächlich gute Ideen sind und ob eine neueBlockkonfrontation gegen China und die Entsendung der Fregatten „Bayern“ und
„Württemberg“ ins Südchinesische Meer, damit sie dort – wie einst die Kreuzerdivision vor Kiautschou – „Flagge zeigen“ für „unsere Werte undInteressen“, wirklich dazu beitragen, den Frieden in der
Welt zu sichern und globale
Menschheitsprobleme wie die soziale Ungleichheit und die Klimakatastrophe zu bewältigen.
Der Kampf fürs Vaterland
Die am 27. Februar 2022 ohne vorherige parlamentarische, geschweige denn breite gesellschaftliche Debatte von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD)
verkündete „Zeitenwende“ – schon der Form nach ein demokratiepolitischer Skandal – ist in der Tat eine Zeitenwende auch dem
Inhalt nach. Sie wendet die Zeit, aber nicht in eine goldene Zukunft; sie dreht die Uhr zurück in die düstere deutsche Vergangenheit.
Bei der inneren Zeitenwende geht es zurück in eine Zeit der Soldatendenkmäler, damit eine
„glückssüchtige Gesellschaft“ (Joachim Gauck, damals Bundespräsident) wieder lerne, die im Kampf fürs Vaterland am Hindukusch
Gefallenen als Helden zu verehren. Es geht zurück in die Zeit der „Pflichtjahre“, mit der dieselben Leute, die im Rahmen der
„Agenda 2010“ und der Hartz-Gesetze einst Sprengsätze am sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft legten, heute wieder „Gemeinsinn stärken“ wollen und vergessen, dass es das „Pflichtjahr“ in der deutschen Geschichte schon einmal gab und wann und zu welchem
Zweck, nämlich demselben: ideologisch zu kitten, was wirtschafts- und sozialpolitisch zerbrochen wurde.
Die Abbrecherquote bei der Grundausbildung im Wehrdienst
Bei der inneren Zeitenwende geht es weiter um den Wiedereinbruch des Militärischen in die Schulen, wo die Kinder nach Ansicht von Bundesbildungsministerin Bettina
Stark-Watzinger (FDP) im Sinne eines
„unverkrampften Verhältnisses zur Bundeswehr“ und für „unsere Widerstandsfähigkeit“ zusammen mit Soldaten der Armee den Kriegsfall üben sollen und wo Jugendoffiziere der Bundeswehr als „Karriereberaterinnen undKarriereberater“ auf die Schüler losgelassen werden, um mit den aktuellen Rekordzahlen an Minderjährigen
im Kriegsdienst die allgemeinen Rekrutierungsprobleme der Truppe zu lösen. Aber klar, in Zeiten angespannter Arbeitsmärkte reicht die reine Wehrpflicht aus ökonomischen Gründen, die die
Amerikaner „economic draft“ nennen, und die an die Stelle der „Bürger in Uniform“ die „Prekarier in Uniform“ und eine
„Unterschichtenarmee“ (Michael Wolffsohn) setzte, in der Ostdeutschland zwar keine Generäle, aber nach dem Motto
„Arbeitslosoder Afghanistan“ fast zwei Drittel der Soldaten im
Kriegseinsatz stellte, nicht mehr aus, um bis 2031 das erklärte Ziel eines 203.000 Soldaten starken Heeres zu erreichen.
Auch die angeworbenen EU-Ausländer sind bislang ausgeblieben, weil die südeuropäische
Jugendarbeitslosigkeit eben nicht mehr 50 Prozent oder mehr beträgt wie noch zu Eurokrisenzeiten. Hinzu kommt die Abbrecherquote bei der Grundausbildung. Sie ist eklatant hoch, weil die Realität beim Kommiss nun einmal herzlich wenig mit dem Bild zu tun hat, das die jährlich 35
Millionen verschlingende Armeewerbung an Straßenbahnen, Bushaltestellen und auf YouTube verspricht: Kameradschaft,
Rumschrauben an geilen PS-strotzenden Karren, Kriegals Gaming
(bloß ohne Resetknopf), Weltreisen, Weltrettung, Lebenssinn. Neue Soldaten jedoch braucht das Land angesichts der Rekordzahlen nachträglicher Verweigerungen bei Reservisten, deren Lust, sich fürs Vaterland zusammenschießen zu lassen, offenkundig gering ist – untertroffen nur noch von den Anhängern der
Grünen, die Umfrage auf Umfrage zwar stabil Waffen und
Kriegsdienst für Ukrainer und andere fordern, aber von denen nach einer Forsa-Umfrage nur 9 Prozent bereit wären, Deutschland auch
persönlich mit der Waffe zu verteidigen.
Zeitenwende: Ein neues Feindbild heraufbeschwören
Die innere Zeitenwende bringt indes das Militärische nicht nur in die Schulen zurück, sondern auch an die Universitäten, wo Regierung und konservative Opposition unter dem Jubel linksliberaler
Medien gegen das verpflichtende Friedensgebot im Grundgesetz
verstoßen und die Zivilklauseln aushebeln wollen, die es als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg bislang verboten haben, Forschung und Wissenschaft in den Dienst der Rüstungskonzerne zu stellen. In
Nordrhein-Westfalen ist das mit den Stimmen von CDU und FDP längst geschehen.
Innere Zeitenwende meint auch die Rückkehr der Unterscheidung von „Gut“ (wir, naklar!) und „Böse“ (die anderen, was sonst?), von (westlicher) „Zivilisation“ und (östlicher) „Barbarei“, bloß das die Grenze vom „Ostproblem“
(Walther Harich) weiter nach Osten verschoben wurde und die Barbarei nicht schon an der Grenze zu Polen beginnt. Es ist die Rückkehr der „Erbfeinde“ (einst Frankreich, heute Russland und
China) und die Rückkehr der „Bürde des weißen Mannes“ (Rudyard Kipling) zur Zivilisierung der
Barbaren, die wieder am deutschen Wesen genesen sollen und sich – so jüngst Reinhard Bütikofer, außenpolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament, auf PHOENIX – sich „einfach von uns so verwandeln lassen“ müssen, „dass am Ende dann etwas rauskommt, was einfach den Vorstellungen entspricht, die man von uns
über das Land und darüber“ gehabt hat, „wie die Welt insgesamt organisiert sein soll.“
Längst gelten wieder Berufsverbote für die „inneren Feinde“
Die innere Zeitenwende ist auch die Rückkehr des ostentativen Unwillens, in geschichtlichen Kontexten und Kausalzusammenhängen zu denken und dabei auch die
Perspektive der „Feinde“ einzunehmen (um, wenn schon nicht Völkerverständigung zu befördern, wenigstens der Kriegseskalation vorzubeugen); ja, es ist die Rückkehr der medialen Ächtung bis hin zur
Unterstrafestellung des bloßen Versuchs, es zu tun. Innere Zeitenwende bedeutet die Rückkehr der „vaterlandslosen Gesellen“, die schon heute wieder als „fünfte Kolonne“ des Feindes
bezeichnet und vom Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit mit illiberaler Justiz und Polizeigewalt abgehalten werden, während für die Feinde von außen autoritäre Einreise- und Sprechverbote
erteilt werden, so wie dies jüngst der renommierten Philosophin Nancy Fraser und dem früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis widerfuhr. Innere Zeitenwende ist, wenn eine
Wissenschaftsministerin, sich auf einen Schmähartikel aus der Bild-Zeitung beziehend, massivste Polizeigewalt gegen friedlich protestierende Studentinnen und Studenten rechtfertigt. Und wenn ein
autoritärer Liberalismus, anstatt den Dialog zu suchen, seine Kritiker und die, die bloß ihre Bürgerrechte wahrnehmen, pauschal unter Verfassungsfeindverdacht stellt. Innere Zeitenwende ist, wenn
der Bundestag, wie vor zwei Jahren im Rahmen der Verschärfung von Paragraf 130 StGB und der „Holodomor“-Resolution geschehen, über Nacht Gesetze erlässt, die in erheblichem Maße die Freiheit
und den Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung einschränken und durch Kriminalisierung Gesinnungskonformismus produzieren, wo einst Historiker ergebnisoffen debattierten.
Längst gelten wieder Berufsverbote für die „inneren Feinde“, die man durch Gesinnungsprüfungen vom öffentlichen Dienst fernhält, wie beim
neuen „Radikalenerlass“ in Brandenburg. Migranten sollen, sofern sie sich nicht zur „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ und Staatsräson einer bedingungslosen Unterstützung des
israelischen Staates bekennen, egal, welche rechtsextremen Kräfte ihn gerade regieren und welche KI-gesteuerten Kriegsverbrechen er gerade begeht, nicht nur keine Staatsbürgerschaft erhalten, wie
dies der Bundestag Anfang des Jahres mit den Stimmen der Ampel beschlossen hat, sondern man will sie ihnen sogar bis zu zehn Jahre rückwirkend entziehen. Dies forderten
u.a. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und die Sozialdemokraten gegenüber Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft. Dass dieselben Akteure dann wenig später – nach Bekanntwerden
der sogenannten „Wannseekonferenz 2.0“ der AfD und des rechtsextremen Identitären-Chefs Martin Sellner – vor den Vertreibungsplänen von Rechtsaußen warnten und skandalisierten, dass der AfD-
Bundestagsabgeordnete Gerrit Huy auf dem Treffen für die doppelte Staatsbürgerschaft plädierte, um so Menschen mit Migrationshintergrund den deutschen Pass leichter entziehen zu können, bekam
dadurch ein Geschmäckle. Jedenfalls ergaben sich Glaubwürdigkeitsprobleme, wenn dieselben, die diese Pläne als rote Haltelinie bezeichnen, weil der Entzug der
Staatsbürgerschaft schließlich das Mittel der Nazis gewesen sei, ihre Gegner zu vertreiben, nun selber damit liebäugeln. Und die Empörung über die „Remigrations“-Träume der AfD, die schon
bei Björn Höckes Buch – ohne Frage – „Terror mit Ankündigung“ gewesen sind, wurde umso unglaubwürdiger dadurch, dass nur wenige Wochen zuvor die Ampelkoalition das europäische Asylrecht
geschliffen und Scholz im Rahmen der vom Spiegel begrüßten „neuen Härte in der Flüchtlingspolitik“ „Abschiebungen im großen Stil“ gefordert hatte.
Die Rückkehr zur Wehrpflicht und der Aktienkurs von Rheinmetall
Die innere Zeitenwende beinhaltet weiter, auch weil die Bevölkerung ihren Eliten über weite Strecken der Nachkriegsgeschichte nicht in Aufrüstung und Kriegseinsätze
zu folgen bereit war, die Rückkehr einer Agitation und Propaganda in staatlichen und privaten Medien, die – Feindbilder, Siegesgewissheit und Durchhalteparolen verbreitend – wenig mit vierter
Gewalt und viel mit Volkserziehung
zu tun hat. Dazu gehört die Schaffung eines inneren Kollektivs mit nationalen Mythen und einer „Leitkultur“, die ein in sozialer Ungleichheit auseinanderlaufendes
Land zusammenhalten sollen, eine allgemeine Renationalisierung und Militarisierung der Sprache und Beförderung emotionaler Verhärtung. Innere Zeitenwende ist, wenn etwa die auflagenstärkste
Zeitung in Deutschland den größten deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall – Aktienkurssteigerung seit dem Ukrainekrieg: +523 % – die Rückkehr zur Wehrpflicht fordern lässt, weil „die
Zeitenwende (…) eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ sei und „freiheitliche Gesellschaften (…) in der Lage dazu sein“ müssten, „für ihre Werte einzustehen“. Bleibt es bei diesem Tempo, dürfte im
Rahmen von Initiativen, wie dem von CDU und CSU geforderte „Bundesprogramms für Patriotismus“ unweigerlich auch der „Sedan-Tag“ fröhliche Urständ feiern, mit dem man im Kaiserreich den Sieg
über den damaligen Erbfeind feierte. Schon jetzt dürften in manchen Planstellen Überlegungen angestellt werden, wie ein – an sich nie wahrscheinlicher und heute immer unwahrscheinlicher
gewordener – militärischer Sieg über Russland angemessen in der kollektiven Erinnerung verankert werden könnte.
Geschichtsklitterung für die eigene Moral
Die vielen Artikel aus bürgerlich-liberalen Schreibstuben, die im Geiste eines „ohnmächtigen“ und „hilflosen Antifaschismus“ vor der AfD warnen oder gegen die
rechtsautoritären Nationalisten den Vorwurf des „Landesverrats“ erheben, merken dabei augenscheinlich nicht, dass jeder ihrer mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger geschriebene Artikel den
Rechtsextremen mindestens ein paar Hundert neue Wähler zutreibt, weil deren sich ohnmächtig fühlenden Wähler die Angst der Herrschenden spüren und zum Glauben verleitet sind, durch ein Kreuz bei
der AfD sich selbst zu ermächtigen und den verhassten Eliten eins auszuwischen. Aber während sie verkennen, dass sie – mit Brecht gesprochen – doch eigentlich nur wie die Kälber sind, die der
Trommel hinterhertrotten, für die sie das Fell selber liefern, verkennen die Liberalen vor allem eines: Es braucht für die Rückkehr der Gespenster der dunklen Vergangenheit keine Weidels und
Höckes. Sie selbst, die Liberalen, sind es, die sie beschwören.
Die „innere Zeitwende“ rehabilitiert in einer Weise Begriffe, Sprache, Politikstile und Mittel der nationalistischen und autoritären Rechten des späten 19. und
frühen 20.
Jahrhunderts, dass es dafür einer AfD gar nicht bedarf. Zurück ist die „nationale Sicherheit“, in deren Namen internationales (Investitions- und Handels-)Recht und
das Völkerrecht, auf das man sich sonst gelegentlich beruft, gebrochen wird. Wieder da sind „Staatsräson“, „Autarkie“, die heute „De-Risking“ heißt, Hochrüstung und die Aufforderung zur
„Kriegstüchtigkeit“, denn sonst steht, na klar, „in fünf bis acht Jahren“ der Russe bei dir im Keller. Wieder wird vor „Kriegsmüdigkeit“ im Volk gewarnt, finden öffentliche Gelöbnisse und
Militärparaden vor Landesparlamenten statt und markiert eine „neue Lust auf Helden“ die Rückkehr des „heroischen Denkens“, das über den – an Verdun und den Ersten Weltkrieg gemahnenden und nicht
zu gewinnenden – Stellungs- und Abnutzungskrieg in der Ukraine sagt: „das Gemetzel ist notwendig“. Entstanden ist ein neuer Gewaltkult, der – vollkommen geschichtsvergessen – nach innen nie zuvor
gesehene Ausmaße der Gewalt von Jugendlichen mit Silvesterböllern beklagt, während er nach außen selbst nur noch die Sprache der Gewalt vorlebt und ausschließlich die Logik des Militärischen
kennt. Auf einmal wieder da ist eine politische Kultur des „Wer nicht hören will, muss fühlen“, deren Losung „Waffen, Waffen und nochmals Waffen“ ist und in der liberale Journalisten und ein
grüner Wirtschaftsminister wie einst die Pimpfe vom Deutschen Jungvolk für die technischen Daten der allerneuesten Waffen-Systeme der Rüstungskonzerne schwärmen, um dann anschließend wie Ego
Shooter vor der Mattscheibe Kill Counts gegen die als „Orks“ entmenschlichten Feindsoldaten zu feiern und sich am Töten von Russen aus Weltrekordentfernung zu weiden. Kurz: das alles kehrt in
Worten und Taten des „liberalen“ Bürgertums zurück, dafür braucht es gar keine Nazis.
Der Sowjetunion wird Mitschuld am Zweiten Weltkrieg gegeben
Es braucht sie nicht, um „Veteranentag“ und Heldendenkmäler für Gefallene einzuführen oder für die Forderung nach „Wehrkunde im Schulunterricht“. Es braucht sie
nicht, um Holocaust-Mittäter wie Stepan Bandera
zu Freiheitskämpfern umzudeklarieren. Und es bedurfte auch keiner Faschisten mit Trademark und Copyright für den beispiellosen Geschichtsrevisionismus und die
monströse Holocaustrelativierung, die Wladimir Putin mit Hitler gleichsetzt und den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands in der Ukraine mit Hitlerdeutschlands Vernichtungskrieg im Osten, dessen
Ziel im Rahmen des „Generalplan Ost“
bekanntlich die Versklavung der Ostvölker und Vernichtung ihrer gesamten gesellschaftlichen Elite – wenigstens 30 Millionen Menschen – durch systematische Massaker
an Unbewaffneten („Kommissarbefehl“) und systematisches Verhungernlassen (wie während der Leningrad-Blockade mit mehr als einer Million Ziviltoten) war und aus dem sich auch der Plan zur
systematischen Ermordung des europäischen Judentums ergab.
Während Liberale es lieben, auf X (ehemals Twitter) vom „Putler“ zu sprechen, war es mit Berthold Kohler ein FAZ-Herausgeber, der sogar noch vor Bekanntwerden des
russischen Kriegsverbrechens von Butscha den Begriff „Vernichtungskrieg“ für den Ukrainekrieg nutzte, selbstverständlich in vollem Bewusstsein, dass er damit Russlands Krieg gegen die Ukraine,
den nach UN-Angaben in mehr als zwei Jahren mindestens 10.810 Zivilisten mit dem Leben bezahlt haben, gleichsetzt mit dem „Russlandfeldzug“ der Nazis, die in unter vier Jahren 27 Millionen
Sowjetbürgerinnen und Sowjetbürger aus der Ukraine, Belarus und Russland töteten, etwa die Hälfte davon Zivilistinnen und Zivilisten. Dabei war es das Europäische Parlament, das vor vier Jahren
mit den Stimmen der Liberalen und im Geist der NPD und des Geschichtsrevisionismus von Ernst Nolte der Sowjetunion die (Mit-)Schuld für den Zweiten Weltkrieg gab, während die taz und die „Grüne
Jugend“ Höckes „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gleich in Eigenregie vollzogen, als die Berliner Tageszeitung unter dem Titel „Putin ist der neue Stalin“ ihrer grünalternativen
Leserschaft erklärte, „die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges“ sei, „dass Stalin diesen Krieg geplant hatte (…), lange bevor Hitler an die Macht kam“, und die „Grüne Jugend“ gleich
noch das „Unternehmen Barbarossa“ zum Höhepunkt der „Siedlungseroberung“ eines russischen „Kolonialstaats“ erklärte und damit den Nazis und ihrer für sich reklamierten „europäischen
Sendung“ zur Befreiung der „Ostvölker“ die rückwirkende Legitimation erteilte.
Ursula von der Leyen küsst „Post-Faschistin“ Meloni
Im Übrigen bedarf es auch für einen antifeministischen Rollback keiner rechtsextremen Incel- und „Männerbewegung“. Als Björn Höcke vor sieben Jahren bei Pegida
in Dresden eine unverweichlichte „Männlichkeit“ als Voraussetzung von „Wehrhaftigkeit“ forderte, wurde er als ewiggestrig gescholten. Im Zuge der „inneren Zeitenwende“ kommen dieselben
Forderungen aus der sogenannten bürgerlichen Mitte, wenn zum Beispiel der Literaturwissenschaftler, SZ- Redakteur und Theodor-Wolff-Preisträger Tobias Haberl („Der gekränkte Mann“) im Spiegel
aufklärte, der „deutsche Großstadtmann“, der „kochen kann“, sei mit seinen
„gepunkteten Socken“ „zu weich für die neue Wirklichkeit“, weswegen ein Zurück zur
„nötigen Härte“ und der „Streitkultur seiner Väter“ fällig sei, denen – aber ja nur zu unserem Besten! – regelmäßig die Hand ausrutschte, weil sie eben noch
wussten, dass sich „nicht jedes Problem wegdiskutieren lässt“.
Es sind Liberale, für die es zur neuen Normalität gehört, ihre Gegner wie Kritiker von (einseitigen) Waffenlieferungen als „Lumpenpazifisten“,
„gewissenlose“ „Unterwerfungspazifisten“, „Friedensschwurbler“, „Putins willige Helfer“ oder gleich als „Totengräberinnen der Ukraine“ und „Secondhand-Kriegsverbrecher“ zu bezeichnen. Es
sind Liberale, die jetzt schon für die Zeit nach dem Ukrainekrieg rüsten und fordern, der „Pazifismus darf nicht wieder auferstehen“. Es war die liberale Zeit, die am 80. Jahrestag der „Wollt ihr
den totalen Krieg?“-Rede von Joseph Goebbels das Interview einer linken Liberalen, Eva Illouz, betitelte mit: „Ich wünsche mir einen totalen Sieg“, um diese dann unter dem Jubel des tagaus tagein
die Trommel rührenden Perlentauchers, ausführen zu lassen, dass sie sich diesen „totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine“ wünsche, „weil die Russen täglich Verbrechen gegen die
Menschlichkeit verüben, die nicht ungesühnt bleiben dürfen“ und „weil Putin die ideellen Werte Europas bedroht.“ Kurz, für all das braucht es keine extreme Rechte. Dieselben Leute, die heute die
Konservativen davor warnen, als Lehre aus der Geschichte von 1933 ja nicht die „Brandmauer“ einzureißen, während sie, wie Ursula von der Leyen, in Europa die „Post-Faschistin“ Meloni küssen,
wo sie sie treffen, bemerken gar nicht den Flammenwerfer in der eigenen Hand, mit dem sie das Land längst angezündet haben.
„Waffen, Waffen und nochmals Waffen“
Dabei muss auffallen, dass es eben nicht nur ewiggestrige Konservative von der „Stahlhelm-Fraktion“ sind, sondern gerade der „linke“ Flügel des Bürgertums, der
sich in Sachen innere Zeitenwende besonders ins Zeug legt. Sicher, es war der CDU/CSU-Außenminister im Wartestand, Roderich Kiesewetter, der vor wenigen Wochen forderte, dass der „Krieg nach
Russland getragen werden“ müsse und man „alles tun“ sollte, dort nicht nur „russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere“ oder „Ölraffinerien“, sondern auch „Ministerien“ „zu
zerstören“. Aber der liberale Extremismus, der sich dadurch auszeichnet, dass er keine Rücksicht auf reale Gegebenheiten, Risiken und realistische Ziele nimmt, sondern in seinem auf
selbstgerechtem Moralismus fußenden Fanatismus gegen den „Totalitarismus“ selber totalitäre Züge an den Tag legt und keine Mittelbeschränkung zur Erreichung seiner Ziele erkennen lässt, hat seine
Ursprünge letztlich in einem bis heute ungebrochenen Avantgardismus der Ex-Maoisten in der Partei Die Grünen.
„Kriegstüchtigkeit“ wiederum forderte ein sozialdemokratischer „Verteidigungsminister“. Bei den Forderungen nach pauschal weiteren 100, 200, 300 Milliarden
Euro für die Bundeswehr bei gleichzeitigen Sozialkürzungen, versteht sich, war Roderich Kiesewetter bloß das Echo der SPD-Politiker Scholz, Eva Högl, Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags, und
Pistorius. Vor „Kriegsmüdigkeit“ wiederum warnte eine grüne Außenministerin, die sich zu Karneval gerne als „Leopard“-Panzer verkleidet hätte und sich im Ergebnis eines tief blicken
lassenden Freud’schen Versprechers längst „im Krieg mit Russland“ sieht. Es war der grüne Wirtschaftsminister, der bei Maybrit Illner über die Panzerhaubitze 2000 ins Schwärmen geriet: „Die
kann richtig was!“. Es war die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die auf die Frage der „heute-Show“, ob sie denn gedient habe, antwortete, sie sei „gut
für den Volkssturm“. Und die Forderung nach „Waffen, Waffen und nochmals Waffen“ wiederum stammte ebenfalls von einem grünen Bundespolitiker, in diesem Fall Anton Hofreiter, der auch
systematisches Aushungern wieder zum Prinzip deutscher Machtpolitik machen will. Als Beispiel für die von ihm markig geforderte Außenpolitik, die – im Geist von „Blut und Eisen“ und „Macht ist
das größte Aphrodisiakum“ – endlich wieder „mit dem Colt auf dem Tisch verhandel(t)“, schlug er im Dezember 2022 im Interview mit der „Berliner Zeitung“ vor, mit der Kornkammer Ukraine am Wickel
zukünftig 1,4 Milliarden Chinesen – denn womöglich „wagt“ es mal wieder einer von ihnen, uns Deutsche „scheel anzusehen“! – offen den Hungertod anzudrohen: „Wenn uns ein Land Seltene Erden
vorenthalten würde, könnten wir entgegnen: ‚Was wollt ihr eigentlich essen?‘“.
Bürgerliche Mitte: In atemberaubendem Tempo nach rechts
Es sollte also auch nicht verwundern, dass es das linksliberale Bürgertum ist, das heute öffentlichkeitswirksam seine Geisteshaltung korrigiert und durch
symbolische Gelübde seine Loyalität zum Vaterland beweist, als wäre es noch einmal August 1914. Die Liste derjenigen, die es für nötig hielten, symbolisch ihre Wehrdienstverweigerung
zurückzuziehen und den Fahneneid auf die Nation in Waffen zu schwören, ist lang. Sie reicht von Scholz und dem „grünalternativen“ Wirtschaftsminister Robert Habeck über gealterte Intellektuelle,
Journalisten und Schriftsteller wie Ralf Bönt („Das entehrte Geschlecht“), Stern-Redakteur Thomas Krause und den taz-Redakteur Tobias Rapp bis zu anderen Personen des öffentlichen Lebens wie dem
evangelischen Bischof Ernst-Wilhelm Gohl, dem Komiker Wigald Boning und dem „ewigen Hofnarr“ Campino von der bekannten Schlagerband „Die Toten Hosen“. Vor diesem Hintergrund war es auch nur
folgerichtig, dass Rapp als ehemaliger Redakteur und bis heute Mitherausgeber der „linksradikalen“ Jungle World jüngst im Spiegel auch den „Veteranentag“ begrüßte als einen „großen
Schritt weg von alten Lebenslügen“: „Eine Gesellschaft“ könne nun „sagen: Wir können die Last nicht von euren Schultern nehmen, die es heißt, gekämpft und möglicherweise getötet zu haben.
Aber wir können euch einmal im Jahr eine Bühne geben und an diese Last erinnern. Es war nicht sinnlos.“
Es war Theodor W. Adorno, der einmal schrieb, er habe weniger Angst vor der extremen Rechten als vor der rechten Radikalisierung der „Mitte“, vor der Rückkehr des
Nationalistischen, Autoritären und Faschistischen in der Sprache der Demokratie. Wer heute glaubt, die Rechte am besten mit ihren eigenen Waffen schlagen zu können, von der Übernahme ihrer
Migrationspolitik, ihres Kulturkampfes und ihrer Begriffe und Politikmittel aus dem „Zeitalter der Katastrophen“ (Eric Hobsbawm), der betreibt ihr eigentliches Geschäft. Kurzfristig mögen die
Umfragewerte der AfD in Folge der Skandalisierung der Machenschaften ihres Spitzenkandidaten für die Europawahl heruntergehen. Langfristig mag man sich in der AfD zurücklehnen, weil man weiß:
„Rechts wirkt“. Das Land rast mit atemberaubendem Tempo in eine rechte Vergangenheit; aber im Führerstand stehen nicht Björn Höcke und Maximilian Krah, sondern die Liberalen selbst.
Ingar Solty ist Autor und lebt in Berlin.Im Herbst erscheint sein neues Buch „Der